Vor acht Jahren hatte die Amerikanerin ihren Freund angestiftet, ihre Mutter umzubringen. Die Geschichte eines einzigartigen Mordfalls.
Ines Häfliger
3 min
«The Bitch is dead», schrieb Gypsy Rose Blanchard im Juni 2015 auf Facebook. Ihr Freund Nicholas Godejohn hatte zuvor in Missouri mit 17 Messerstichen Gypsys Mutter Dee Dee getötet. Auf Wunsch von Gypsy. So zumindest erzählt sie es immer wieder – bis heute.
Ihr damaliger Freund und Gehilfe Godejohn erhielt eine lebenslängliche Haftstrafe, Gypsy musste acht Jahre ins Gefängnis. Diesen Donnerstag kommt sie frei. Auf Social Media wird ihre Freilassung gefeiert. Millionen von Nutzern finden, die Mutter Dee Dee habe den Tod verdient, Gypsy sei eine Heldin, die zu Unrecht im Gefängnis gesessen habe.
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Der Fall und seine Einzigartigkeit machten damals weltweit Schlagzeilen. Gypsy wurde von ihrer Mutter jahrzehntelang körperlich und psychisch missbraucht. Die Mutter behauptete, dass ihre Tochter schwer krank sei, an Leukämie, Epilepsie, Asthma, Muskelschwund leide und aufgrund eines Hirnschadens die geistigen Fähigkeiten einer Siebenjährigen besitze.
Doch das war alles gelogen.
Namhafte Wohltätigkeitsorganisationen spendeten für Gypsy
Nicht Gypsy war krank, sondern ihre Mutter. Psychologen, die sich mit dem Fall befasst haben, sind der Ansicht, die Mutter habe am sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gelitten. Eine seltene psychische Störung, bei der Eltern Krankheitssymptome bei ihrem Kind erzeugen oder vortäuschen.
Die Ursachen des Münchhausen-Syndroms sind komplex und können mit anderen psychischen Krankheiten zusammenhängen. Häufig wollen Betroffene mit den erfundenen Krankheitssymptomen Aufmerksamkeit erregen. Gypsy, das Mädchen mit dem kahlrasierten Kopf und der piepsigen Stimme, sass im Rollstuhl und erregte Mitleid. Mitleid, das der alleinerziehenden Mutter Geld einbrachte. Namhafte Wohltätigkeitsorganisationen wie Ronald McDonald House oder die Make-A-Wish Foundation spendeten für die Mutter und die vermeintlich schwerkranke Tochter.
Familienangehörige, Freundinnen, Nachbarn, Ärzte, Medien: Die Mutter schaffte es, allen eine riesige Lüge als Wahrheit zu verkaufen. Sie gaukelte ihrem Umfeld und der Öffentlichkeit vor, dass ihre Tochter um Jahre jünger sei, die Krankheiten echt seien. Und sie brachte Ärzte dazu, Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln.
Gypsys Vater Rod Blanchard war 17 Jahre alt, als seine 24-jährige Freundin von ihm schwanger wurde. Er sagt dem Onlineportal «Buzzfeed»: «Alles drehte sich so schnell. Die Mutter hatte immer eine neue Idee, was mit Gypsy los war, einen neuen Arzt, ein neues Medikament. Die Informationsflut wirkte wie eine Mauer um Mutter und Tochter.»
Gypsy hat dem «People Magazine» jüngst erzählt, ihre Mutter habe sie jahrelang manipuliert. Sie habe gelernt, dass es besser sei, die wilden Behauptungen ihrer Mutter nicht anzusprechen. «Wenn ich Bedenken äusserte, wurde sie sehr, sehr wütend auf mich.» Gypsy wurde nie eingeschult. Der Kontakt zu ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihren Halbgeschwistern blieb ihr weitgehend verwehrt. «Was ich von der Aussenwelt wusste, war nur in Disney-Filmen zu sehen, und in diesen gibt es keine Warnzeichen für schlechte Eltern.»
Ihr Freund war der Erste, der die Wahrheit erfuhr
Als Teenager habe sie begonnen, ihrer Mutter zu widersprechen, erzählt Gypsy dem «People Magazine». Daraufhin sei sie von ihr beschimpft und geschlagen worden. 2013 lernte Gypsy auf einer Online-Dating-Plattform Nicholas Godejohn kennen, der ihr Freund wurde. Er sei der Erste gewesen, dem sie die Wahrheit erzählt habe. Dass ihre Mutter sie zwinge, im Rollstuhl zu sitzen, dass die Krankheiten eine Lüge seien. Eines Tages habe sie Godejohn in einem Moment der Verzweiflung gefragt, ob er ihre Mutter töten könne. Er tat es.
Nicholas Godejohn erstach die Mutter in ihrem Haus. Mit einem Messer, dass Gypsy ihm gegeben hatte. Gypsy soll sich angeblich im Badzimmer versteckt und sich die Ohren zugehalten haben, damit sie die Schreie ihrer Mutter nicht hört.
Gypsys Schicksal schockiert – und fasziniert. Es fasziniert besonders Leute, die von True Crimes besessen sind. Gypsys Geschichte wurde mehrfach verfilmt, 2017 zum Beispiel unter dem Titel «Mommy Dead and Dearest». Nun hat das «People Magazine» eine Doku-Serie angekündigt. Die erste Episode soll eine Woche nach Gypsys Freilassung erscheinen.
Gypsy sagt, sie hoffe, dass ihr Fall als abschreckendes Beispiel diene. In missbräuchlichen Beziehungen sei Mord nie ein Ausweg. «Es gibt immer einen anderen Weg. Man kann alles tun, aber man sollte nicht diesen Weg einschlagen.» Sie versuche nun, sich und ihrer Mutter zu verzeihen. Sie stehe am Vorabend des Glücks.
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