Die Filmstarts-Kritik zu Stillwater - Gegen jeden Verdacht (2024)

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Stillwater - Gegen jeden Verdacht

Kritik der FILMSTARTS-Redaktion

Stillwater - Gegen jeden Verdacht

Ein Amerikaner in Marseilles

Von Michael Meyns

1958 erschien ein Roman, dessen Titel später zum geflügelten Wort wurde: „Der hässliche Amerikaner“. In dem Werk vonEugene Burdick und William Lederer geht es um die Selbstwahrnehmung der Vereinigten Staaten und speziell um das Gefühl, anderen Nationen überlegen zu sein. Aber dieses eitle Gedankengebäude kann auch ganz schnell einstürzen, gerade im Ausland, wo einem dem eigenen Selbstverständnis nach ja alle hoffnungslos unterlegen sein müssten – aber dann meist gar nicht sind. Da kann der Blick in den Spiegel schnell sehr schmerzhaft werden, zumindest wenn man diesen Grad an Selbsterkenntnis denn zulässt.

Ein solch „hässlicher Amerikaner“ ist auch der Held in „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“, dem neuen Film von OscargewinnerTom McCarthy („Spotlight“). Gespielt wird er kongenial vom herrlich gegen den Strich besetzten All American Boy Matt Damon, dessen Figur im Film nach Marseille zieht, um dort die Unschuld seiner wegen Mordes verurteilten Tochter zu beweisen. „Stillwater“ legt sich dabei nicht auf ein Genre fest, könnte Thriller oder Justizdrama sein, erzählt dann aber doch vor allem einfühlsam und vielschichtig vom Trump-Amerika, von Klassen-Konflikten und einer Vater-Tochter-Beziehung, die auf kaum auf eine härtere Probe gestellt werden könnte.

Die Filmstarts-Kritik zu Stillwater - Gegen jeden Verdacht (1)

Billy entspricht ganz dem Kinobild eines Amerikaners, der mit allem und allen aufräumt, die sich seiner Vorstellung von Gerechtigkeit entgegenstellen ...

Seit Jahren pendelt Bill Baker (Matt Damon) zwischen Stillwater, einer Kleinstadt in Oklahoma, und der französischen Hafenstadt Marseille. Dort sitzt seine Tochter Allison (Abigail Breslin) seit fünf Jahren im Gefängnis, verurteilt für den Mord an ihrer Lebensgefährtin, der arabischstämmigen Lina. Nie würde Bill an der Unschuld seiner Tochter zweifeln und so setzt er sofort alle denkbaren Hebel in Bewegung, als neues Beweismaterial auftaucht, das seine Tochter womöglich entlasten könnte. Ihm zur Seite steht die Französin Virginie (Camille Cottin), eine Theaterschauspielerin, und sowie deren kleine Tochter Maya (Lilou Siauvaud). Die beiden sind für ihn sowas wie die die Brücke in eine fremde Kultur, zumindest vorübergehend.

Nach einer guten Dreiviertelstunde stellt eine Freundin von Virginie Bill die Frage, die auch vielen Zuschauer*innen auf der Zunge liegen dürfte: „Hast du Trump gewählt?“ Hat er nicht – aber nicht, weil er nicht wollte, sondern weil ihm nach einer Gefängnisstrafe das Wahlrecht entzogen wurde. Aber Tom McCarthys betreibt hier alles andere als das herablassende „Redneck“-Bashing, das Hollywood immer wieder vorgeworfen wird. Stattdessen ist das Reflexionsniveau und die Komplexität seines Blicks auf Amerika und die Amerikaner*innen wirklich beeindruckend. Das liegt sicherlich auch daran, dass McCarthy das Buch gemeinsam mit dem französischen Starautor Thomas Bidegain und dessen Schreibpartner Noé Debré verfasst hat. Hier werden die Kulturen tatsächlich einander gegenübergestellt und von beiden Seiten gleichberichtig beleuchtet – und damit ist nicht nur der Gegensatz Frankreich/ USA gemeint.

Der Mann hinter dem MAGA-Klischee

Nicht erst seit Beginn der Trump-Ära tobt in Amerika ein Kulturkampf, sehen die Bewohner der kulturellen Küstenmetropolen wie New York, San Francisco und Los Angeles auf die Bewohner der so genannten Fly Over States in der Mitte des Landes herab – und die wiederum schauen, zumindest dem Klischee nach, auf alle anderen herab, und sehen dabei aus wie Matt Damon in „Stillwater“: Baumwollhemden, ein Tattoo mit amerikanischem Adler am Oberarm, einen Ziegenbart, eine Baseballmütze, die nur zum Beten und Schlafen abgesetzt wird, dazu ein Gang, der mehr an einen Orang-Utan erinnert als an einen Mann, der auch mal ein Buch liest oder ins Museum geht. Fast wie eine Parodie von Liam Neesons Held aus „96 Hours“ wirkt diese Figur zu Beginn, wie ein seltsames, fremdes Wesen, bei dem man als Kinogänger*in mit ein wenig Genreerfahrung sofort glaubt, dass es nur ins Alte Europa reist, um den Franzosen mal zu zeigen, was ´ne Harke ist.

Aber „Stillwater“ ist eben nicht „96 Hours“, stattdessen präsentiert McCarthy, der für sein stilles Missbrauchsdrama „Spotlight“ mit dem Oscar als Bester Drehbuchautor ausgezeichnet wurde, quasi die realistische, vielschichtige Version des „Ein Amerikaner sorgt in Europa für Gerechtigkeit“-Plots. Schon dass der Protagonist von Matt Damon gespielt wird, der selbst in den „Ocean´s“-Filmen an der Seite vonGeorge Clooney undBrad Pitt immer wie ein Hort der Bodenständigkeit wirkte, deutet an, dass da mehr unter der Fassade schlummert als ein tumber Trump-Wähler. In der Französin Virginie und ihrer Tochter findet Bill Halt - er zieht bald bei ihnen ein, arbeitet auf dem Bau, malocht, macht sich die Hände schmutzig. Ehrliche Arbeit, ein einfaches, vielleicht auch ein echtes Leben, ganz im Kontrast zu jener intellektuellen Existenz, zu der es Allison hinzog. Warum sie Marseille als Ort für ein Auslandsstudium gewählt hat, wird sie einmal gefragt: „Weil es weit weg ist von Oklahoma ist“, lautet ihre vielsagende Antwort.

Die Filmstarts-Kritik zu Stillwater - Gegen jeden Verdacht (2)

... aber so eine Art von Film ist "Stillwater" zum Glück ganz und gar nicht!

Auf der Suche nach einer anderen Welt, möglichst weit vom scheinbar so spießigen Leben ihres Vaters, hat sich Allison selbst verloren. Da sind deutliche Parallelen zum Der-Engel-mit-den-Eisaugen-Fall von Amanda Knox zu erkennen, also jener amerikanischen Austauschstudentin, die in Italien Jahre wegen Mordes im Gefängnis saß, dann aber trotz erheblicher Zweifel doch freigesprochen wurde. Auch im realen Justizfall wurde viel über Rasse und Klasse gesprochen, über die schöne Knox und den anderen mutmaßlichen Täter, einen Migranten. Klare Antworten gab es damals kaum und auch „Stillwater“ verharrt konsequent in seiner Ambivalenz – und mittendrin spielt Matt Damon eine der stärksten Rollen seiner Karriere als Mann, der immer höflich und zuvorkommend ist, dabei aber auch naiv und völlig blind für seine eigenen Schwächen bleibt.

Fazit: Mit seinem Thriller-Drama „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ wirft Tom McCarthy einen unbequemen Blick auf das Selbstverständnis Amerikas. Während der Film immer wieder überraschende Wendungen nimmt, erzählt er einfühlsam und vielschichtig von Klassen-Konflikten und Trumps Amerika und entwirft so mit der Hilfe seines Hauptdarstellers Matt Damon zugleich einen der komplexesten und faszinierendsten Kino-Anti-Helden der letzten Jahre.

Die Filmstarts-Kritik zu Stillwater - Gegen jeden Verdacht (3)

Wir haben „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“ auf dem Filmfestival in Cannes gesehen.

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